Tipps & Tricks

24.05.24

Gastbeitrag

In einer Welt, die von zunehmender Komplexität und Vernetzung geprägt ist, gewinnen interdisziplinäre Studiengänge immer mehr an Bedeutung. Sie bieten Studierenden die Möglichkeit, über den Tellerrand traditioneller Fachgrenzen hinauszuschauen. Doch wie gestaltet sich das interdisziplinäre Lernen in der Praxis und welche Hürden bringt es mit sich? Wie können Studierende diese meistern und wie kann interdisziplinäres Lernen trotz bestehener Herausforderungen tatsächlich zu einer bereichernden Erfahrung werden?

Interdisziplinäre Studiengänge sind vielversprechend: Sie eröffnen Bildungsräume jenseits traditioneller disziplinärer Pfade, sie ermöglichen es den Studierenden, soziale Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und ihre Talente in verschiedenen fachlichen Kontexten auszuprobieren. Doch interdisziplinäre Studiengänge bringen auch Herausforderungen mit sich, insbesondere wenn es darum geht, sich in unterschiedliche disziplinäre Denkweisen einzufinden. Konfus kann es im Studium gerade dann werden, wenn die Unterschiede selbst begrifflich nicht zu unterscheiden sind (vgl. Schmitz et al. 2022, S. 2): Meint „beurteilen“ in der Medizin oder Psychologie dasselbe wie in der Politikwissenschaft oder der Theologie? Mitunter überschreiten die Lehrgebiete nicht nur Disziplinen, sondern auch die tief ins Wissenschaftssystem eingeschriebene Trennung in Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Die Unterscheidungen sind dabei nicht objektiv und essentiell gegeben, sondern beruhen auf immer wieder diskursiv (re-)produzierten Macht- und Wissenssystemen, in denen Lehrende ihr Selbstverständnis und ihre (disziplinäre) Identität ausbilden (vgl. Huber 2013, S. 11 f.).

Implizites Wissen: Unsichtbare Barriere zwischen Dozierenden und Studierenden
Studierende geraten im Verlauf ihres Studiums immer wieder in die Rolle der Noviz*innen, konfrontiert mit Dozierenden, die auf einen langjährigen Ausbildungsweg in ihrer Disziplin zurückblicken und über Forschung und Lehre ihren Wissensvorsprung stetig ausbauen. Nicht selten haben Dozierende in dem Fach studiert und geforscht, dessen Denkweisen ihnen ohnehin bereits gut lag: „Faculty generally chose to go into fields where they were successful at that kind of thinking and have been working within that particular disciplinary framework for years. Therefore, they may have leaped almost automatically over obstacles that can prove daunting for novices.“ (Middendorf und Pace 2004, S. 5). 

Hürden abbauen mithilfe von Decoding
Dozierende haben als Expert*innen ihrer Fächer wichtige Schritte beim Bearbeiten einer Aufgabe so verinnerlicht, dass sie diese nicht mehr explizieren. In der Konsequenz bleibt Studierenden dieses implizite Wissen verborgen. Als „Schattenwissen“ findet es keinen Eingang in didaktische Konzepte und ist für Studierende kaum greifbar. Besonders trifft dies Studierende, die über keine Vorbildung im konkreten Fach – etwa über ein Vorstudium, eine Ausbildung oder die Familienbiographie – verfügen (vgl. Middendorf und Pace 2004, S. 3; zur habitussensiblen Lehre siehe Stoll und Kiehne 2022). Genau diese Friktionen in studentischen Lernprozessen nehmen Decoding-Studien in den Blick, indem sie analysieren, welches implizite Wissen beim Lösen akademischer Aufgaben von Bedeutung ist (vgl. Middendorf und Pace 2004; Pace 2017, 2021).
 

Kern des Decoding-Prozesses: Interview und Modellierung
Wie lassen sich die Hürden nun abbauen? Zentral ist nicht nur, dass sich Dozierende des eigenen impliziten Wissens bewusst werden, sondern dass sie gezielt Wege entwickeln, Studierenden dieses Wissen zugänglich zu machen. Mit Hilfe ausführlicher Interviews wird in einem mehrschrittigen Decoding-Verfahren abgebildet, welche mentalen Schritte Expert*innen intuitiv gehen, um Hindernisse mühelos zu überwinden. Dabei erklären sie nicht nur ihr Verständnis zu einem bestimmten Problem, sondern refklektieren gleichermaßen ihre konkreten Vorgehensweisen, wenn sie selbst vor einer Aufgabe stehen. Aus diesen Erkenntnissen folgt eine Modellierung des Gedankenprozesses, wodurch es den Studierenden möglich wird, die einzelnen Schritte konkret nachzuvollziehen und zu üben. Unterstützend können Dozierende beispielsweise von ihnen gelesene und kommentierte Texte zur Verfügung stellen und transparent machen, warum sie welche Passagen hervorgehoben haben oder auch begründen, warum sie bestimmte Stellen – ohne lange zu überlegen – übersprungen haben.


Blick nach vorne: Leerstellen und Forschungsansätze
Decoding-Studien nehmen in der Regel einzelne Dozierende und die von ihnen identifizierten Lernhürden in den Blick. Die Pilotstudie „Tacit Knowledge in Learning Processes. An Obstacle in cross-disciplinary Degree Programms using the Example of Social Work“ – hervorgegangen aus einem SoTL-Projekt (Scholarship of Teaching and Learning) im Spezialisierungsmodul des Sächsischen Hochschuldidaktik Zertifikats – verfolgt hingegen einen vergleichenden Ansatz und zielt über die Durchführung von Interviews mit Dozierenden mehrerer Disziplinen auf die Identifikation verschiedener Denkprozesse, die anschließend über Modellierungen für Studierende zugänglich gemacht werden. 

Dadurch wird eine Leerstelle adressiert, die für bisherige Decoding-Studien kennzeichnend ist: Die Konzentration auf eine einzelne Lehrperson kann zwar ein konkretes Lernhindernis überwinden, die didaktische Modellierung bleibt allerdings auf die Denkweise der jeweiligen Dozent*in beschränkt. 

In interdisziplinären Studiengängen können die Studierenden hingegen von den Modellierungen unterschiedlicher disziplinärer Denkweisen profitieren. Wie gehen die Dozierenden in verschiedenen Disziplinen vor? Welche – vielleicht quer zu den Disziplinen liegenden – Denkprozesse zeigen sich? Lassen sich Typen bilden? 

Mithilfe eines explorativen Studiendesigns soll diesen Fragen in der Pilotstudie nachgegangen werden, um die Ergebnisse schließlich mithilfe von Modellierungen als Tool für die Hochschuldidaktik fruchtbar zu machen. Gerade für interdisziplinäre Studiengänge verspricht der vergleichende Ansatz neue Erkenntnisse und Schritte hin zu einer inklusiven Hochschule.

 

Quellenangaben: 
Huber, L. (2013): Lehre und Lernen in den Disziplinen. Anerkennung und Transzendierung von Fachkulturen. In: HDS.Journal 4 (1), S. 5–21.
Middendorf, J.; Pace, D. (2004): Decoding the disciplines: A model for helping students learn disciplinary ways of thinking. In: New Directions for Teaching and Learning 2004 (98), S. 1-12.
Pace, D. (2017): The decoding the disciplines paradigm. Seven steps to increased student learning. Bloomington: Indiana University Press (Scholarship of teaching and learning).
Pace, D. (2021): Beyond Decoding the Disciplines 1.0. In: Teaching & Learning Inquiry 9 (2), S. 1-27. 
Schmitz, D.; Becker, B.; Schütz, K.; Höhmann, U. (2022): (Normalisierungs-)Strategien von Lehrenden und Lernenden in interdisziplinären Lehr-/Lernkontexten. In: die hochschullehre. Interdisziplinäre Zeitschrift für Studium und Lehre 8 (1), S. 1-15.
Stoll, C.; Kiehne, B. (2022): Habitussensible Lehre? Bourdieu und Lernbiografie in der Lehrkompetenzentwicklung nutzen. In: die hochschullehre. Interdisziplinäre Zeitschrift für Studium und Lehre 8 (7), S. 96-112. 
 

Autor:in

Prof. Dr. Isabelle-Christine Panreck

ic.panreck@katho-nrw.de